Felgenbruch

Iran – Ende Oktober

Jetzt wirds harzig. Irgendetwas stimmt da nicht. Etwas schlägt und schleift beim bremsen!

Das ist der Anfang von einem doch etwas gröberen Schaden an Mänu’s Velo.  Was dieser Schaden alles nach sich zieht ist ein Paradestück des Iranischen Wunders.

Das Unheil naht

Es ist flach, weit kann der Blick über das herbstlich goldige Gras schweifen, am Horizont weit entfernt stehen verschneite Berge – dort ist die Grenze zum Irak. Vor uns liegt der Urmiasee, ein kläglicher Rest eines einst viel grösseren Gewässers in der west-asarbaidschanischen Provinz des Iran. Über den See führt eine 30 km lange Strasse auf einem Damm, die Ufer glitzern gleissend weiss im Sonnenlicht, der See ist zum grössten Teil versalzt.

Auf dem sanften Abhang zum See hin bremst uns Mänu aus. Irgendetwas stimmt da nicht. Mänu und ich tauschen Velos – nach etwa 5 Sekunden halte ich mit klopfenden Bremsen an – da ist was mit dem Hinterrad…

Der Atem stockt, der Herzschlag gallopiert im Klopfrhythmus des Hinterrads davon. Das ist übel. Ganz übel. Wärend Martina kurzum schon das Ende unserer Reise ahnt versucht Mänu das Hinterrad mit Optimismus zu kurieren. Die Lastwagen donnern knapp an uns vorbei, dies ist nicht der Ort um über Lösungsansätze zu meditieren. Das Rad dreht sich noch, also weiter im Text. In der Landschaft rumstehen ändert jetzt auch nichts. Die nächste Stadt liegt noch gut 50 Kilometer entfernt.

Eskalation

Runter an den See und auf den Damm – schnurgerade überqueren wir den Salztümpel. Bei der Brücke in der Mitte des Damms vergessen wir am beeindruckenden Salzstrand das unheilschwangere Hinterrad.

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Wieder auf dem Damm heisst es Gring abe u tschaupe, 20 Kilometer geradeaus ist nicht unbedingt die grösste Herausforderung. Irgendwann haben ich und Martina Mänu abgehängt, ganz klein ist er noch im Rückspiegel. Wir stoppen und warten. Und warten. Und warten. Langsam nähert sich Mänu, er scheint Schwerstarbeit zu leisten. Es sieht aus wie bei 15% Steigung im losen Schotter. Dann ist es wohl jetzt so weit – hier endet das Leben von Mänu’s Hinterrad.

Die Felge ist auf 20 cm komplett aufgerissen und klemmt in den Bremsklötzen, fahren ist unmöglich, der Pneu wurstet ungesund aus der gerissenen Felge hinaus. Na dann… hier gibt’s nichts zu reparieren, die Felge muss ausgetauscht werden. Oder gleich das ganze Hinterrad. Aber Moment – Mänu’s Velotraum ist mit einer Roloff-Nabe ausgerüstet, da gibt es keinen Ersatz hier! Was machen wir denn jetzt?!

Kurz und knapp die Situation analysiert ergibt sich eigentlich nur eine Möglichkeit. Es muss eine neue Felge auf die bestehende Roloff-Nabe eingespeicht werden. So weit so einfach. Dann wäre also der nächste Schritt eine neue Felge auftreiben und diese dann einspeichen, hier enden meine Möglichkeiten, ich kann nur einen Satz farbiger Inbus-Schlüssel anbieten.

Wir brauchen also eine Möglichkeit um in die nächste Stadt zu gelangen, dort brauchen wir ein bescheidenes Zuhause um dann im nächsten Schritt einen Velomech zu organisieren der unser Problem löst. Mänu ist schon fast dran Autos zu stoppen, die nächste Stadt Urmia liegt immer noch 30 km entfernt, aber ich habe noch eine andere Idee…

das Iranische Wunder

Über das soziale Netzwerk warmshowers.org sollten sich doch sicherlich bei denVelobegeisterten Irani ein paar Infos zu Velomechaniker und Übernachtungsmöglichkeiten in der angepeilten Stadt auftreiben lassen. Dank der iranischen SIM-Karte schreibe ich kurzum die ersten paar Kontakte an – die meisten haben in ihrem Profil gleich die Handynummer im Angebot. Sowieso – ohne Zmittag läuft hier keine Rettungsaktion, der Nachmittag ist schon agebrochen und Hunger hebt die Stimmung nicht im geringsten. Wir parkieren unsere Göppel an der Leitplanke und klettern (rutschen) die Dammböschung ans Seeufer hinunter. Die Aussicht ist hübsch und die Routine beim Kochen bringt etwas Ruhe ins Problem-Chaos.

Ich will nach den ersten vier Anfragen gerade das Handy weg legen um den Leuten die Möglichkeit zum antworten zu geben, da kommen bereits erste Hilfsangebote rein. Ich hätte wohl nicht so viele Anfragen machen sollen – jetzt muss ich schauen dass nicht verschiedenste Leute gleichzeitig Rettungsaktionen organisieren!

Es stellt sich dann heraus, das Sina (im Iran ein gängiger Name für Jungs) einen Velomech in Urmia kennt, und optimistisch ist, dass dieser das Problem lösen kann. Die ersten Steine fallen uns vom Herzen. Es ist erst knapp eine Stunde vergangen seit ich mein Handy hervor geholt habe. Kurz darauf meldet sich Faraz aus Teheran bei mir, Sina habe ihn angerufen weil er den Velomech kennt. Wir telefonieren über Whatsapp, die Rettungsmaschinerie kommt ins laufen. Behzad ist unser Mann, soweit ich es verstanden habe ist er bereits auf dem Weg um Mänu und sein Velo abzuholen.

Zeitweise geht die Organisiererei etwas schnell, ich verliere den Überblick, alle wollen helfen, jeder hat sich bereits in Bewegung gesetzt. Nur wir sitzen hier in der Mitte des Sees und essen erst mal Zmittag. Ich versuche die überschüssige Hilfestellung etwas zu bremsen, wir können ja auch selbst ein Auto nach Urmia organisieren. Nichts zu machen, in der Zwischenzeit bin ich mit Behzad und Faraz in einem Gruppenchat damit die Kommunikation besser klappt. Behzad schickt ein Foto von seinem Tacho – er rast mit 100 km/h Richtung Urmiasee.

Wir sind knapp fertig mit unserem Zmittag, da hupt es und wir schütteln Behzad die Hand. Sein Englisch ist sehr rudimentär aber um die technischen Probleme zu lösen muss man nicht lange diskutieren. Ich schaue etwas kritisch zu seinem winzigen Peugeot 206. Behzad marschiert bereits mit halb demontiertem Velo Richtung Auto, kurzerhand muss die komplette Musikanlage mit Subwoofer raus damit wir mit all dem Gepäck Tetris spielen können.

Soweit ich ihn verstehe meint er ganz bescheiden er könne problemlos eine neue Felge einspeichen. Roloff? Kennt er nicht aber das ist alles «no problem».

Kurz darauf braust er mit Mänu und seinem Velo und Gepäck Richtung Urmia davon. Immer noch wissen wir kaum wie uns geschah, das schier unlösbare Problem hat sich innert zwei Stunden quasi verflüchtigt. In der Zwischenzeit melden sich noch weitere Leute bei mir, unter ihnen Basir aus Oshnavieh. Als erstes entschuldigt er sich per Sprachnachricht etwa fünf mal, dass er nicht schneller reagiert hat, leider sei er nicht in Urmia aber wir sollen doch bitte in Erwägung ziehen einen Umweg zu ihm zu machen wenn unser Velo wieder flott ist.

Martina und ich schwingen uns auf unsere Velos und brausen los, Behzad hinterher, noch wissen wir nicht wo und wie wir übernachten werden, doch machen wir uns in der Zwischenzeit überhaupt keine Sorgen mehr, die meisten Probleme lösen sich hier im Iran von selbst. Es ist unglaublich mit welcher Selbstverständlichkeit die Leute uns helfen, ohne uns zu kennen oder lange zu fackeln werden Freunde und Verwandte mobilisiert um den Velölern aus der Schweiz eine Reparatur, ein Dach über dem Kopf und ein Znacht zu organisieren.

Neue Räder

Ich habe die Koordinaten von Behzads Velowerkstatt, beim Eindunkeln treffen wir dort ein nachdem wir durch dichten Verkehr in die Stadt navigiert sind. Behzad ruft seinen Freund Faraz in Teheran an, damit er für uns übersetzt. So erfahren wir dass er eine neue Felge organiseren konnte, doch sei diese leider etwas schwächer als die alte Felge. Er möchte daher die stabilere Felge aus dem gesunden Vorderrad ausbauen und dann im Hinterrad neu einspeichen um dann anschliessend das Vorderrad mit der neuen schwächeren Felge ebenfalls neu einzuspeichen. Das ist ein ganz schön grosser Aufwand, ich versuche zu erklären dass das mit der schwächeren Felge am Hinterrad für die nächsten 1000 km schon funktionieren wird, doch nichts zu machen – wenn schon, dann richtig! Eigentlich kann ich ihm nur zustimmen. Kurzerhand schraubt Behzad die Speichen raus und zerlegt die Räder.

Behzad der Velomech

In der Zwischenzeit sind wir alle bei seinem Bruder und seiner Familie zum Tee eingeladen damit wir nicht in der Werkstatt warten müssen. Er macht die Räder noch heute fertig verspricht er uns. Also verschieben wir zu Behzads Bruder und von da aus organisiere ich dann auch noch unsere Übernachtung – natürlich hat sich in der Zwischenzeit Sina, mein Erstkontakt, darum gekümmert und hat bei seinem Freund Ahad in der Studenten-WG ein Platz für uns organisiert. Kurz darauf holt er uns mit dem Auto ab, unser Gepäck und die Velos bleiben bei Behzad in der Garage stehen. Wir geben es auf den Lauf der Dinge beeinflussen zu wollen, schliesslich ist für alles gesorgt und wir werden von einer Person zur nächsten weitergereicht.

Happyend

Schlussendlich bleiben wir zwei Nächte in Urmia – beide davon verbringen wir bei Ahad, Sinas Freund. Das ist aber eine andere Geschichte, eine mit vielen spannenden Diskussionen, einem Besuch bei Sinas Vater, einem Ausflug mit seinen Freunden und zwei gemütlichen Abenden in der Studi-Wohnung.

Noch am selben Abend, kurz vor Mitternacht schickt mir Behzad ein Video in den Gruppenchat – das Hinterrad surrt im Zentrier-Ständer, alles geschafft. Kurz darauf schickt er nochmals ein Video, er fährt das Velo zu sich nach Hause – mit dem Auto, die Hand zum Fenster raus führt er das wieder montierte Velotraum neben der Fahrertüre, mit der anderen Hand ist er am filmen. Wie steuert er wohl?

Am übernächsten Morgen stehen wir dann alle wieder bei Behzad zuhause, er hat heute Geburtstag und präsentiert uns stolz Mänus repariertes Velo. In der Zwischenzeit hat sich die halbe Nachbarschaft vor seinem Haus versammelt und wir machen in den unterschiedlichsten Konstellationen Fotos zum Abschied.

Roman – Behzad – Mänu – Sina – Martina

Natürlich lässt es sich Behzad nicht nehmen und begleitet uns bis zum Stadtrand mit seinem Rennvelo – wie wir erfahren ist er nicht nur Velomech sondern auch Radrennfahrer.

Wir hätten es nicht besser treffen können, die beispiellose Hilfsbereitschaft der Jungs von Warmshowers in Urmia und der Profimech Behzad haben diesen doch gravierenden Schaden innert kürzester Zeit behoben und uns nebenbei viele neue Bekanntschaften und Einblicke in ihr Leben ermöglicht. Wir verlassen Urmia mit dem Gefühl, dass im Iran alles möglich ist und wir uns für die nächsten zwei Monate keinerlei Sorgen machen müssen.

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