Kurdistan

Iran – Anfang November

Bei der Routenplanung in Tabris: Fahren wir an den See! Liegt zwar null und gar nicht an der direkten Linie zu unserem nächsten grossen Etappenziel Isfahan, aber wir mäandrieren ja schon seit Georgien wild durch die Gegend.

Bis jetzt hat sich das Abweichen von der naheliegenden Strecke meistens gelohnt und auch dieses Mal werden wir überrascht. Nicht nur von schöner Natur, sondern vor allem von einem Kulturraum, den wir überhaupt nicht auf dem Radar hatten und welcher erst in Form von Pumphosen, Leibgurt, stramm darunter geklemmtem offenem Jäggli und turbanähnlicher Kopfbedeckung auf uns zu tritt.

Der Entscheid, den Urmiasee zu besuchen, fiel schon in der ersten Woche im Iran, nämlich in Tabris. Zu diesem See lässt sich locker eine eigene Geschichte schreiben, eine Geschichte, die den Hals austrocknet und einen leer schlucken lässt, das aufgewirbelte Salz könnte dem einen oder anderen Naturliebhaber ein paar Tränen in die Augen zwingen, der Klimawandel winkt hier mit einigen Zaunpfählen. Aber man kann schöne Fotos machen, das entschädigt natürlich das schlechte Gewissen des Ökosünders.

Die erste grosse Story beschert uns Mänus Velotraum, und dieser Felgenbruch bringt uns nicht nur nach Urmia zu Sina, Behzad und ihren Freunden (dazu der Beitrag Studizeit), sondern auch noch weiter in den Süden, an die irakische Grenze.

Bei meinem Hilferuf über Warmshowers und Couchsurfing zur Rettung von Mänus Hinterrad habe ich auch Basir angeschrieben. Er war nicht unter den ersten, die mir geantwortet haben, und seine erste Audionachricht traf erst ein, als Mänu gerade mit Behzad davongebraust ist. Er entschuldigte sich wiederholt, dass er sich erst so spät melde, aber er sei sowieso nicht in Urmia, er wohne in Oshnavieh, eine gute Tagesetappe von Urmia entfernt. Wir sollen ihn doch unbedingt besuchen, die Natur sei wunderschön auf diesem kleinen Umweg. Noch etwas angeschlagen von der ganzen Organisiererei für den Felgenschaden vertröste ich Basir auf den nächsten Tag, wir werden dann weiterschauen, ich würde mich melden.

Und das mache ich auch, wir sind jetzt mitten in der iranischen Gastfreundschaft angekommen, wir verbrachten zwei Nächte mit Sina und seinen Freunden in Urmia. Auch diese Reise zurück in die wilde Studentenzeit ist eine eigene Geschichte. Hier lernen wir, dass in dieser nordwestlichen Provinz einiges anders ist als im restlichen Iran. Urmia ist eine türkische Stadt, die Leute sprechen türkisch, man grenzt sich ab vom Persischen. Schon Tabris war türkisch, die ganze Region ist türkisch, obwohl natürlich offiziell iranisch. Die Provinz heisst West-Asarbaijan, schon das macht uns etwas stutzig, schliesslich liegt das Land Asarbaijan nicht allzu weit weg.

Wir brechen auf in Urmia, nächstes Ziel ist Oshnavieh. Behzad begleitet uns bis an den Stadtrand mit seinem Rennradl, danach sind wir wieder auf uns selbst gestellt. Die Tagesetappe bis Oshnavieh ist nicht weiter anspruchsvoll, ein mässiger Pass nach einer entspannten Fahrt durch ein schönes Tal mit Nebenstrasse. Nach der Passhöhe brausen wir in die Stadt hinunter, die Sonne stielt sich schon um fünf Nachmittags davon als wir in einen kleinen Stadtpark rollen. Basir ist noch nicht von einem Ausflug mit seinem Bruder zurück, aber er leitet uns per Whatsapp zu einem anderen Stadtpark, wir sollen dort warten, er schickt einen Freund. Beim Durchqueren der Stadt fällt uns ein neuer Kleidungsstil auf, den haben wir bisher noch nicht angetroffen!

Die Stadt ist klein genug, damit nach ungefähr drei Minuten jeder weiss, dass ein paar komische Touristen mit dem Velo planlos rumgurken. Beim angegeben Park stellen wir unsere Velos vor den Eingang und warten auf Basir oder seinen Freund Karoosh. In der Zwischenzeit habe ich seine Nummer und schreibe abwechlungsweise mit den beiden, um ihnen zu versichern, dass es uns gut geht. Etwa fünf Sekunden nachdem wir am Park stehengeblieben sind, hat uns die gesamte Nachbarschaft und vorallem deren Kinder entdeckt. Wir werden umringt, die Velos befummelt, die Jungs sind arg hin- und hergerissen zwischen frech und scheu. Ein Geistlicher kommt vorbei (erkennbar am Turban), er spricht uns an, kein Englisch, moment, Telefon! Dann habe ich plötzlich Basir am Ohr, die Welt und wahrscheinlich vorallem dieses Kaff ist klein. Wenn irgendwo Touristen stehen, rufen alle Basir an. Zufälligerweise ist der Geistliche auch sein Onkel (wobei Onkel für ungefähr jeden Verwandschaftsgrad ausser Vater und Sohn steht). Dann stösst ein weiterer Junge dazu, er ist Basirs Englisch-Schüler. Er «betreut» uns bis Karoosh zu uns stösst. Wir stehen mittem im Trubel und obwohl es schon langsam dunkel wird und noch nicht klar ist, wo wir schlafen, machen wir uns null Gedanken.

Karoosh arbeitet auf einer Hühnerfarm, doch eigentlich ist er Lehrer und hat auch eine Anstellung und einen Job, die Kombination liegt nicht allzu nahe. Er hält dann auch nicht damit hinter dem Berg, dass seine eigentliche Passion bei der Übersetzung von Büchern liegt. Sobald wir bei ihm im Wohnzimmer einquartiert sind lernen wir seine Frau kennen. Die Wohnung mit der Einrichtung steht in krassem Gegensatz zur letzten Nacht in der Studentenbude – uns scheint als ob hier mehr Geld verfügbar ist. Karooshs Frau ist Schulleiterin, doch sie scheint ihren primären Job etwas ernster zu nehmen als ihr Mann, der uns Videos von der Hühnerfarm zeigt, wo er den Hühnern Lieder vorsingt.

Dann als die Grundbedürfnisse der Gäste mit Tee versorgt sind, wenden wir uns ernsteren Themen zu. Uns ist schon aufgefallen, dass wir irgendeine unsichtbare Kulturgrenze überschritten hatten, die Männer tragen weite Pluderhosen, schnittige Jacken dazu und auffällige breite, um den Bauch gebundene «Gurte» aus einem Tuch. Wir sind in den Kurdengebieten angekommen!

Moment, da war doch irgendeine Warnung vom EDA zu den Kurdengebieten? Wobei, dass kann man ja nicht allzu ernst nehmen, in der Türkei wurden wir ja im Osten dauernd vor kurdischen Terroristen gewarnt, aber gesehen haben wir nie jemanden. Ich schaue mir mal die Karte genauer an – wir logieren keine 20 km von der irakischen Grenze entfernt. Alles ruhig hier. Und erstaunlicherweise gibt es nirgends Terroristen.

In den nächsten Stunden, Basir ist in der Zwischenzeit auch zu uns gestossen, diskutieren wir intensiv die Situation der Kurden, ihre Bräuche, die Kultur, die Geschichte und natürlich die Verfolgung und Unterdrückung. Kurz kommt mir eine zu dieser Zeit aktuelle Meldung aus dem Zürcher Flughafen in den Sinn – kurdische Flüchtlinge (aus der Türkei) sitzen am Flughafen fest weil sie dort Asyl beantragt haben. In der Kritik stehen die Räumlichkeiten weil die kurdischen Kinder keinen vernünftigen Spielplatz haben in der sterilen Flughafenatmosphäre. Karoosh und seine Frau sind glühende Verteidiger der kurdischen Kultur, daher auch ihr Engagement, wichtige Texte ins Kurdische zu übersetzen, um die Sprache zu erhalten.

Selbstverständlich können wir an diesem Abend die kurdischen Probleme nicht lösen – einmal mehr bleiben wir aufgerüttelt und um eine weitere unterdrückte Volksgruppe reicher auf dem Teppich sitzen. Während Karoosh sich eher auf die negativen Seiten der Situation konzentriert, dabei das Gespräch aber mit Witz und viel Intellekt auch auflockert, sieht Basir die Welt etwas positiver. Er stürzt sich in verschiedenste Arbeiten, will etwas machen, will Geld verdienen und dabei etwas erreichen. Wir merken schnell, die Kurden (natürlich ohne Ausnahmen und ganz generell) sind gute Geschäftlimacher. Alles dreht sich um Handel (und Schmuggel), abenteurliche Finanzstrategien aber auch um konkrete Geschäfte. Basir etabliert sich seit einigen Monaten als Fruchthändler. Er kauft den Bauern ihre Ware ab und vertickt diese kontainerweise nach Indien und Pakistan. Wie wir auf den letzten Kilometern vor der Stadt gemerkt haben, liegt hier wohl das Mostindien des Irans. Oder um das mit den Worten von Karoosh zu präzisieren – das Mostindien von Kurdistan, dem unabhänigen Kurdenstaat. Wir halten uns mit Äusserungen zurück.

Da Basir uns einiges zeigen will und wir gespannt auf weiter Geschichten aus Kurdistan sind, beiben wir hier einen Tag. Basir stellt ein Tagesprogramm zusammen. Zuerst besuchen wir Basirs Familie im Haus seines Grossvaters. Dieser ist eine beeindruckende Erscheinung, offensichtlich alt, mit langem Bart und flinken Augen. Er wirft sich den weissen Umhang um und die Kopfbedeckung zeichnet ihn als Geistlichen aus. Er ist wohl einer der bekanntesten Personen der Stadt, hat einige der Mullas ausgebildet und vertritt selbst einen unglaublich toleranten und weltoffenen Glauben. Er lädt uns in sein Arbeitszimmer ein, wir müssen uns etwas Platz auf dem Boden freiräumen als wir uns zu fünft in die Kammer zwängen.

Er erklärt uns wie nahe der Islam und das Christentum verwandt sind, dazu einige Lebensweisheiten, alles in allem eine sehr interessante und bereichernde Erfahrung. Natürlich lädt er uns ein, die nächste Nacht in seinem Zuhause zu verbringen. Was sich dann später sowieso so ergibt, da Karoosh wegen der Hühnerfarm die Nacht nicht zu Hause verbringt. Aber zuerst treffen wir Basirs Cousin (diese Bezeichnung wird ähnlich inflationär verwendet wie «Onkel»), der uns mit seinem Peykan erwartet.

Wir machen einen Roadtrip in die umgebenden Hügeln. Basir telefoniert regelmässig mit irgendwelchen Kunden oder Lieferanten, er versucht einen Schiffscontainer aufzutreiben, der kein Vermögen kostet. Da die amerikanischen Sanktionen zielsicher jegliche Geschäfte der Iraner (exgüsee, hier natürlich Kurden) unterbinden wollen, ist es sehr schwierig überhaupt noch Transportkapazitäten zu organisieren. Zwischenzeitlich stoppt sein Cousin das Auto und ordert Mänu hinters Steuer. Das Auto hat wahrscheinlich etwa denselben Jahrgang, die beiden Kurden sind zu Beginn etwas skeptisch ob der verwöhnte Europäer dieses Vehikel auch wirklich steuern kann. Selbstverständlich kein Problem, Mänu holt zur Untermauerung seiner Fahrtüchtigkeit die alten Geschichten aus seiner Taxifahrerzeit heraus. Basir nimmt die Aktion mit seinem Handy auf, erstaunt darüber, dass es einige Generationen früher in der Schweiz auch solche Schrottautos gegeben hat.

Den Nachmittag verbringen wir in einem Restaurant oberhalb der Stadt, wir versuchen die Reiseroute für die nächsten Wochen bis Hamedan und Isfahan zu planen. Es scheint fast unmöglich. Zu viele lohnenswerte Alternativen, Basir möchte uns am liebsten durch die hohen Berge parallel zur irakischen Grenze durch Kurdistan leiten, doch die Höhenprofile sind nicht ganz im Einklang mit Mänus verbleibender Reisezeit, wir müssen einen Kompromiss finden um mindestens Hamedan zu erreichen, vielleicht reicht es sogar bis Isfahan. Nachdem wir uns dann für eine Route festgelegt haben spazieren wir zurück in die Stadt, treffen überall Leute, hier ein Schwatz, dort ein Tee bis wir dann beim Eindunkeln wieder zurück sind. Karoosh lässt uns aus der Ferne nur ungerne zu Basirs Familie umziehen, doch ist es scheinbar keine Option nur mit seiner Frau hierzubleiben. Vielleicht hat auch Basirs Grossvater darauf bestanden dass wir bei seiner Familie übernachten. Schlussendlich macht das keinen Unterschied, wir sind schnell umgezogen und werden in die nächste Familienrunde integriert.

Die Runde wird immer grösser, wir haben den Überblick schon lange verloren, verschiednste Onkel, Tanten und Cousinen besuchen das Haus. Zuerst vermuten wir, dass die wegen uns kommen. Basir relativiert das. Das Haus seines Grossvaters steht allen offen, und Verwandte und Bekannte besuchen ihn regelmässig. Allerdings sind die Radler aus der Schweiz auch ein guter Grund, vorbeizuschauen. Das Znacht ist einfach (natürlich entschuldigen sie sich dafür) aber genau das, was wir eigentlich viel lieber essen als Chicken Kebab. Der Grossvater rupft seinen Enkeltöchtern und Töchtern regelmässig das Kopftuch vom Kopf, wärend die Grossmutter ohne ein Wort englisch den halben Abend mit Martina über Blicke und Lachen kommuniziert. Später löst sich die Runde auf, aber irgendwie sind am Schluss trotzdem mehr Leute hier als zu Beginn, und die meisten davon übernachten dann auch hier. Man sieht das nicht so eng,
wo man schläft und da man ja einfach eine Matte auf dem Teppich ausrollt, lassen sich locker weitere fünf oder zehn Personen im Wohnzimmer und in der Küche unterbringen.

Am nächsten Morgen brechen wir auf bevor alle aufgestanden sind, wir klettern über die schlafende Verwandtschaft nach draussen. Selbstverständlich ist der Grossvater am morgen aber schon auf, er begleitet uns mit Basir bis auf die Strasse raus. Nach diesen zwei Nächten in unserer ersten kurdischen Stadt sind wir vorbereitet für die Provinz Kurdistan. In den nächsten Tagen werden wir weiterhin in den Kurdengebieten unterwegs sein. Irgendwie total unerwartet (es wäre ja eigentlich klar ersichtlich gewesen wenn wir die Karte etwas genauer angeschaut hätten) aber eine eindrückliche kulturelle Bereicherung.

© 2018 Roman Vogler - Website based on Wordpress